04.12.2016 - Piz Cambrena oder Die Mühen des Sisyphos

Von: Alain Hauser


ungläubiges Staunen bei der Verkündigung des neuen Tourenzieles

Steilwandfeeling in der Cambrena Ostwand

Ankunft im abgewetzten Gnägi am Cambrena Ostgipfel

Fläzen in der Dezembersonne am Ostgipfel

ruheloser Gipfelsammler am Westgipfel

Der Autor im Abstieg in der Ostflanke

nach relativ problemlosen Überwinden der Schlüsselstelle in der Abfahrt

Üblicherweise zeigt sich in Tonis Tourenausschreibungen zu Beginn der Saison noch ein Funke Humanität, ja ein Schuss Philanthropie. So kam es, dass ich beim Lesen der Ankündigung zum Piz Caral die dafür gemeinhin als notwendig zu erachtende Aufmerksamkeit für die Details vermissen liess. Treffpunkt 07:30, also mitten am Tag, 1200 Höhenmeter Aufstieg: das klang soweit nach gemütlicher Kaffeefahrt und liess die ohnehin kurze Aufmerksamkeitsspanne des typischen Vertreters der YouTube-Generation, der diese Zeilen schreibt, abbrechen, ohne die gemeinhin als gesund zu erachtenden Zweifel zu hinterlassen.

Dass ich dem Kleingedruckten mehr Beachtung hätte schenken können, wurde mir zum ersten Mal vage bewusst, als Boris auf dem Parkplatz darüber zu spekulieren begann, ob er wohl ein oder zwei Eisgeräte mitnehmen solle, und als Paolo über seine neue Daunenjacke schwärmte, dank der er hoffentlich nicht mehr so grausam frieren würde wie auf der letzten Tour. Nun ja, es blieb immerhin der Trost, dass es auf der Tour vermutlich ohnehin keine Pausen geben und auch das Lauftempo alle von der WHO als sicher eingestuften Werte überschreiten würde, so dass mein abgewetztes Gnägi als Wärmeschutz genügen könnte.

Der tröstliche Gedanke bewahrheitete sich schneller, als mir lieb war. So wie sich die YouTube-Generation angewöhnt hat, Nachrichten-Podcasts mit 1.5-facher Geschwindigkeit abzuspielen, um ja nicht der Langeweile zu verfallen, so hat es sich die Strapazi-Meute halt angewöhnt, mit 1.5-facher Geschwindigkeit loszustürmen, um ja nicht auch noch den Nachmittag eines sonnigen Tages ans Bergsteigen zu verschwenden.

Dank meiner mangelhaften Vorbereitung war mir glücklicherweise nicht bewusst, dass die Schlüsselstelle der Tour schon relativ bald nach Aufbruch erreicht wäre, nämlich bei der Steilstufe in der schrumpfenden Zunge des Vadret dal Cambrena. Während Toni munter voranging und die 5 mm dicke Schneeschicht auf dem 40° steilen Eis für übertriebenen Luxus hielt, fand ich ausreichend Gelegenheit, mein Nichtkönnen in all seinen Facetten zur Schau zu stellen. Trotzdem kam ich, wie ich nicht ohne Stolz verraten darf, dem Geiste des Strapazitums etwas näher. Wird von einem echten Strapazi erwartet, dass er nach kräftezehrendem Aufstieg "jauchzend im gedeckelten Pulver ins Tal stiebt", jauchzte ich bereits während des kräftezehrenden Aufstiegs. Ich rezitierte die ganze Sammlung berndeutscher Schimpfwörter, die mir aus meiner Kindheit haften geblieben war und sich bereits beim Einschüchtern von Emmentaler Wachhunden als ganz brauchbar erwiesen hatte, und als die Sammlung erschöpft war, wiederholte ich den Refrain von vorn. "Schimpfwörter sy Glückssach", hatte schon Mani Matter bemerkt; wie in so vielem sollte er auch hier Recht behalten, immerhin stand ich, auch von Toni aufmunternd angefeuert, eine gefühlte Ewigkeit und tatsächliche Viertelstunde später wieder in einladenderem Gelände.

Als der weitere Aufstieg wieder in einen gemütlichen Trott überging und ein Ausschweifen der Gedanken zuliess, schlich sich plötzlich die bange Frage in mein Bewusstsein, ob ich die Strampelei von vorhin vielleicht als Allegorie meines ganzen Erdendaseins verstehen sollte. Stosse ich denn im Leben nicht immer wieder auf Schranken, deren Überwindung meine lamentablen Fähigkeiten nicht nur bis hart an die Grenze der Überforderung, sondern einiges darüber hinaus ausreizen, kämpfe ich nicht immer wieder einen Don Quixote-Kampf gegen Windmühlen, dessen Aussichtslosigkeit bloss mir nicht offenbar wird, renne ich nicht immer wieder in dieselben Türen, deren Verschlossenheit mir bei kurzem Nachdenken hinlänglich bekannt sein dürfte? Ist mir vielleicht gar das Schicksal von Sisyphos' Stein bestimmt, der, kaum von andern mit Mühe auf einen Berg gehievt, gleich wieder herunterrollt?

Meine düstere Grübelei fand ein jähes Ende, als Toni stoppte und verkündete, die ursprünglich vorgesehene Route auf den Piz Caral liesse sich nicht begehen (heute präsentierte sich die Flanke als eine einzige blanke Eiswand), aber die Cambrena-Ostflanke schaue verlockend aus und sei deshalb das neue Ziel. Geni fand diesen Vorschlag etwas zuviel des Guten und beschloss, zu Gunsten eines Sonnenbads beim Skidepot auf weitere Strapazen zu verzichten. Mir war der Wechsel einerlei, schliesslich musste jede ernsthaft ins Auge zu fassende Variante ohne Skier an den Füssen nach der Gletscherrutscherei von vorhin wie ein Spaziergang wirken. Ungefähr so wirkte das dann auch, zumindest in Tonis Spuren.

Der Piz Cambrena erwies sich auch deshalb als vortreffliche Wahl, weil er sozusagen zwei Gipfel hat. Mit dem um 4 m niedrigeren Nebengipfel, den wir zuerst erreichten, gab man sich in der Führungsriege natürlich nicht zufrieden. So kam es, dass der faulere Teil der Truppe sich länger dem Picknick zuwenden und in der Dezembersonne auf dem windstillen Gipfel fläzen konnte, währendem Paolo und Toni den gegenüberliegenden Hauptgipfel aufsuchten, um sich zu vergewissern, dass die Aussicht dort der des Nebengipfels ebenbürtig ist.

Der Abstieg erforderte beim steilen Einstieg in die Ostflanke noch einmal eine gewisse Aufmerksamkeit, verlief aber insgesamt kräfteschonend und zügig. Von weit oben sahen wir noch Geni das Weite suchen; nach dem im Dezember frühen Sonnenuntergang war das Skidepot wohl kein besonders komfortabler Warteplatz mehr. Die Steilstufe im Gletscher, die in der Erinnerung des Schreibenden wie auch in diesem Opferbericht eine prominente Rolle einnimmt, liess sich in der Abfahrt auch von Skifahrern mit moderatem Skiniveau (grober Euphemismus) relativ problemlos überwinden.

So trafen wir 6 Stunden nach Abmarsch wieder bei der Bernina-Passstrasse ein, wo wir überraschend auf bekannte Gesichter stiessen, denen Paolo treffend erklärte, was wir mit dem Rest des Winters anzustellen gedachten, nachdem wir solcherart Touren als Saison-Einstieg wählten: für den Rest des Winters würden wir uns von diesem Sch... erholen. Einer sprach's, fünf dachten es. Aber es ist zu befürchten, dass die ersten Spuren der Altersdemenz auch bei jenen fünf schon so weit fortgeschritten sind, dass sich unter ihnen doch in Bälde wieder ein Opfer finden wird, wenn der sechste zu weiteren Taten ruft. Und das wird dieser sechste mit Bestimmtheit schon bald wieder tun.