19.01.2023 - Piz Ot

Von: Alain


Physical distancing bei meditativem Gehen

Die Ambitionierten im Couloir am Gipfel des Piz Ot

Angebunden am Gipfelkreuz - Autor mit maliziösem Lächeln

Die Überambitionierten steigen über Südgrat ab

Auf volles Haar und Kapuze gesetzt

Achtsamkeit pur für trügerischen Powder

Ausgerechnet um Weihnachten herum plagte den Schreibenden ein hartnäckiges Erkältungsvirus. Wie immer in solcherart Situationen flammte der seit alters her bekannte Zwist auf zwischen der durch Pessimismus getriebenen Ängstlichkeit, die zur bestmöglichen Minderung eines Rückfallrisikos grösstmögliche Schonung bis zum Abklingen der letzten über der Wahrnehmungsschwelle liegenden Symptome mahnte, der Vernunft, die zumindest eine gewisse Zurückhaltung bei körperlichen Aktivitäten ins Spiel brachte, und dem durch vorangegangenes, monatelanges Schuften explodierenden Tatendrang, der dazu drängte, jede sich bietende Gelegenheit zum Ausbruch aus dem Alltagstrott zu ergreifen. Als ob dadurch die Sache nicht schon verzwickt genug wäre, beteiligte sich nun, nach bald 2 Jahren Pandemie, noch eine weitere Komponente an diesem Zwist: die sorgfältig gepflegte solidarische Sorge um die Mitbürgerinnen und Mitbürger, deren grösstmögliche Schonung der im Bundesrat amtierende Namensvetter des Schreibenden ebendiesem durch immerwährende Wiederholung der Solidaritätsappelle nahegelegt hatte.

Um letzterem Aspekt, der als besondere Ausprägung christlicher Nächstenliebe durchaus als weihnachtlicher Gedanke gelten kann und daher zu dieser Jahreszeit besondere Beachtung verdient, Rechnung zu tragen, stellte sich also die Frage: wie lässt sich eine genussvolle Freizeitgestaltung mit einer maximalen Schonung der Umgebung kombinieren? Wo wird das seit 2 Jahren propagierte "social distancing" (das zwar, wie jedes neu aufgebauschte englische Schlagwort, wahnsinnig gut klingt, aber im Prinzip "physical distancing" meint) schon seit Langem umgesetzt, gelebt, zelebriert, um nicht zu sagen: ins Extreme getrieben? Wo wurden zur vollständigen Elimination jeglicher durch menschliche Ansammlung potentiell denkbarer Gefahren schon immer grösstmögliche Abstände eingehalten? Wo bahnte sich schon immer eine Vorhut, auf sich allein gestellt, weit ausserhalb jeglicher Sicht- und Hörweite der restlichen Gruppe, einen Weg durch alle Hindernisse und Gefahren, in kilometerlangem Abstand gefolgt von einem weit verstreuten Mittelfeld, das seinerseits jeglichen Kontakt zur sich selbst überlassenen, am Rand der Kräfte hechelnden und ganz sich selbst überlassenen Nachhut verloren hat? Genau: in der Armee. Und bei den Strapazis.

Da zweitere im Unterschied zur ersteren den Schreibenden nicht für untauglich erklären können (dies aber ohne jeden Zweifel gern täten), war die Entscheidung rasch gefällt. Auch die Tatsache, dass der Schreibende dem Gerenne auf den Piz Ot durch einen etwas früheren Aufbruch zumindest anfänglich entgehen konnte, sprach für die Tour (wobei Gründe der Bequemlichkeit zugegebenermassen eine wichtigere Rolle spielten als das bereits zitierte "social distancing"). Auf der Alp Muntatsch war es auch schon vorbei mit der Ruhe des meditativen Aufstiegs, der harte Kern der Strapazi-Meute hatte den Schreibenden erwartungsgemäss rasch eingeholt. Im weiteren Aufstieg bis zum Skidepot war meditatives Gehen bald wieder möglich, naturgemäss zum bereits erwähnten Preis einer gewissen Einsamkeit (wobei Einsamkeit der meditativen Routine wie auch der diskreten Einnahme wenn nicht verbotener, so doch verpönter Substanzen wie Kondensmilch durchaus förderlich sein kann, um den positiven Aspekt hervorzuheben). Das beim Aufstieg noch durch die Felle gedämpfte Kratzen der vielen heimtückisch unter der Schneeoberfläche versteckten Steine liess für die Abfahrt nichts Gutes erwarten. Aber unsereins hat gelernt, auf Strapazi-Touren während des Aufstiegs jegliche Gedanken an ein Später beiseite zu schieben, und sich voll und ganz auf das Jetzt zu konzentrieren, das in der Regel schon fordernd genug ist. Man mag es "Eskapismus" nennen, oder noch maliziöser "Verdrängung"; viel moderner ausgedrückt und positiver betrachtet handelt es sich jedoch um Achtsamkeit. Andere bezahlen für entsprechende Kurse viel Geld. Und ehrlicherweise ist der Lernprozess auch bei Toni nicht ganz gratis, wenn auch nicht in einem monetären Sinn.

Beim Skidepot durften wir uns vergewissern, dass Heinz in der durch den verhängnisvollen Verzicht auf einen zweiten Gipfel ins Unerträgliche gesteigerten Wartezeit noch nicht erfroren war. Die Gruppe teilte sich nun so auf, dass alle gemäss ihren individuellen Ansprüchen die letzten Meter zum Gipfel hochsteigen konnten. Die Ambitionierten stapften durch das Couloir hoch, das dank der frühlingshaft milden Temperaturen der letzten Tage mit ganz passablem Trittschnee aufwarten konnte. Die Überambitionierten machten sich an das im Winter unübliche Erklimmen des Südgrats, auf welchem sie die Ambitionierten überholten. Die milde Luft, der erstaunlicherweise fehlende Wind, sowie die tolle Fernsicht verleitete alle auf dem Gipfel zu einer für Strapazi-Verhältnisse als ausgedehnt zu bezeichnenden Mittagsrast, bei der die Sekundenzeiger der altmodischen Analoguhren mehr als einmal in jede Himmelsrichtung blicken konnten.

Der Abstieg bis zum Skidepot ging zügig vonstatten, vielleicht auch, weil diejenigen im Couloir, die für den Kopfschutz bloss auf volles Haar und Kapuzen gesetzt hatten, durch allerlei Schnee- und Eisbrocken zur Eile angetrieben wurden. Spätestens beim Skidepot sah sich der Schreibende genötigt, seinen während des Aufstiegs so gern betriebenen Eskapismus, die Flucht vor der unangenehmen Realität in eine zwar schönere, aber nur gedankliche Scheinwelt, aufzugeben. Die Abfahrt brachte genau jene Probleme mit sich, vor denen Toni bereits klar und deutlich in der Ausschreibung gewarnt hatte: der Schnee war schwer, oder aber knapp, oder beides zugleich; die Steine, gewissermassen als Ausgleich, sehr zahlreich (und hart und scharfkantig, aber das gehört ja zu ihrem Wesen). Es war nur den zahlreichen und heftigen Seufzern und Flüchen zu verdanken, dass das elende Kratzen im Belag nicht der einzige Lärm am Berg blieb. Der Schreibende fragte sich, ob es an der Tatsache lag, dass die letzte Skitour 8 Monate zurücklag, oder ob es etwa als Zeichen einsetzender Demenz zu werten sei, dass es sich anfühlte, als ob er zum ersten Mal auf Ski stünde. Der geneigten Leserschaft, die dasselbe von mir auf jeder Tour denkt, sei versichert, dass sich die Abfahrt selbst gegenüber langjährigem Mittel überdurchschnittlich mühselig anfühlte. Positiv zu erwähnen bleibt bloss, dass die Abfahrt dank des Ziels Fuorcla Valletta überschaubar kurz blieb, und dass der Wiederaufstieg dank massivem Abrieb von Belag auf den Steinen dann mit etwas leichteren Skis durchgeführt werden konnte.

Auf der Fuorcla Valletta war die ohnehin pitoyable Kondition des Schreibenden erschöpft, dafür die Geister des mysteriösen Erkältungsvirus wieder geweckt, so dass er sich eine Pause erbat, die diesen Namen verdient. Dieses Zeichen der Schwäche blieb einem Teil der Strapazi-Meute glücklicherweise verborgen: sie war schon längst von dannen gezogen. Die Abfahrt über die Skipisten von Celerina war im Vergleich zum Steinski-Abenteuer von vorhin der reinste Genuss. Es drängte sich bloss die Frage auf, warum denn am Pistenrand keine Schneekanonen zu sehen waren, und ob die wohl aus Imagegründen versteckt worden waren, um die Bergbahnen nicht dem gleichermassen maliziösen wie haltlosen Vorwurf der Energieverschwendung auszusetzen.

Was bleibt von der Tour? Schöne Bilder eines alpinen Ambiente am Gipfel. Das Glück eines kleinen Abenteuers in der Einsamkeit. Das Gefühl eines zweiten Frühlings mitten im Hochwinter. Und natürlich haufenweise Kratzer im Belag.