28.12.2013 - Piz Belvair? Piz Belvent!

Von: Alain Hauser


Rauhreif-Gebilde kurz vor Gipfel

Was macht eigentlich Strapazi-Touren aus? Nicht, dass sie um 04:30 starten. Nicht, dass auf ihnen 2300 Höhenmeter zu überwinden sind. Nicht, dass man sein schäbiges Leben auf irgendeinem verwegenen Grat einem dubiosen Friend anvertrauen muss, während gleichzeitig die Gravitationskraft ihre schelmischen Scherze treibt mit den auf dem Rucksack aufgebundenen Skiern.

Nein: es ist alles eine Frage der Einstellung. Und eine Frage der Klugheit. Es ist die Frage, ob man klug genug ist, einen gemütlichen Skihügel wie den Piz Belvair an einem sonnigen, windstillen Tag zu besteigen, ausgerüstet mit genügend Kondensmilch, Weihnachtsgüezi und anderen Leckereien, mit denen man sich die ausgiebige Gipfelrast, lohnend schon wegen der Aussicht, weiter versüssen kann.  Oder aber ob man sich von Bergsüchtigen mit Entzugserscheinungen, durch die lange Schneearmut mitverursacht, im Föhnsturm die windgepeitschten Flanken hochjagen lassen will, nur um auf dem Gipfel festzustellen, dass sich bei dem Wind jeder Eisbär lieber in der Schneegrotte verkriechen würde.

Strapazi-Touren sind dies von Beginn weg. Nun – fast von Beginn weg. Mein Angebot, die Strapazen der Rhätischen Bahn auf mich zu nehmen, um nicht immer von den Autobesitzern zu schmarotzen, wird dankend abgelehnt. So laden wir also die Skier am Bahnhof von Madulain aus den Benzinkutschen, während der leere Regionalzug einfährt. Von da an aber ist es mit den bürgerlichen Bequemlichkeiten ebenso vorbei wie mit den bürgerlichen Nettigkeiten: die verspätete Sybille wird angewiesen, der bereits startenden Gruppe nachzuspurten. Sie wird es danken: jede Minute Verspätung bedeutet zusätzlichen Trainingseffekt für die Haxen.

Sobald sich die alte Skispur im Wald oberhalb Madulain verliert, zeigt sich, dass sich die Gefahrenstufe des Lawinenbulletins auch als Bremsfaktor für Toni lesen lässt. Bei dem heutigen Neuschnee ist er nicht gering verlangsamt oder mässig verlangsamt, sondern erheblich verlangsamt. So steigen wir gemütlich bis zur Alp Belvair auf, wo die erste Rast eingelegt wird. – Neinein, das war natürlich ein Scherz. Pausen sind für Weicheier. Die Oberstrapazis, die Strapazonis sozusagen, haben für Pausen genauso wie fürs Habern bloss Verachtung übrig und spuren direkt weiter. Irgendwann übernimmt Paolo das Zepter und spurt in einem Affenzahn hoch, dass die Hoffnung von uns Zimtsternli vertilgenden Weicheiern schwindet, wegen der erheblichen Schneemenge bis zum Schluss doch wieder zur Spitze aufzuschliessen. Der Straparazzi Toni umschwirrt uns wie ein unterforderter junger Hund, mal vorne, mal hinten, dann wieder vorne, immer die Kamera im Anschlag. Eh ja, zumindest für die Fotogalerie ist es doch immer wieder von Vorteil, ein paar konditionsreduzierte Unterländer dabei zu haben.

Auf dem Gipfel werden unsere Gesichter von feinen Eiskristallen im Föhnwind abgeschmirgelt, auf der Abfahrt geschieht durch die vielen Steine das gleiche mit unseren Skiern. Zumindest auf den obersten 100 Höhenmetern; darunter wird der Fahrspass im Pulverschnee immer grösser und verleitet den einen oder andern zu übermütigen Showeinlagen und Tauchern. Im Wald endlich ist der Pulver derart tief, dass man getrost jegliche Bögli auslassen und direkt der Falllinie folgen kann ("steepest descent" nennt sich das in der numerischen Mathematik). So treffen wir alle frisch und wohlgemut 3.5 Stunden nach dem Abmarsch wieder im Bahnhof von Madulain ein, wiederum gleichzeitig mit dem altbekannten Regionalzug, dessen Fährte wir mit den Benzinkutschen aufnehmen.