10.05.2014 - Mille Grazie, Monte Disgrazia!

Von: Ernesto


Der Autor in den ersten Sonnenstrahlen am Monte Sissone

Monte Disgrazia vom Monte Sissone

Rückkehrer im Nebel, sichtlich weis(s)er

Summiters am Disgrazia-Gipfel

im Abstieg über ausgesetzten Nordwest-Grat

Ehrfürchtig und fasziniert schaute ich vor ein paar Jahren vom Monte Sissone hinüber zum mächtigen Monte Disgrazia. Zweifel kamen auf. Vielleicht doch eine Nummer zu gross für mich? Im Internet auf wikipedia ist zu lesen: „Der Monte Disgrazia ist der Hauptgipfel der Bergeller Alpen und einer der eindrucksvollsten Berge der Ostalpen überhaupt. Er misst 3678 Meter und steht abseits des Hauptkammes der Bergeller Alpen zwischen zwei Seitentälern des Veltlin, dem Val Malenco im Osten und dem Val Masino im Westen, also vollständig auf italienischem Boden. Er bildet eine ca. 600 Meter lange mehrgipflige Mauer, die in nordwestlich-südöstlicher Richtung verläuft. Blickt man von Nordwesten oder Südosten, erscheint er als scharfes, elegantes Horn. Das Veltlin überragt er um knapp 3400 Meter. Im Gegensatz zu den übrigen Bergeller Bergen, welche aus granitischen Gesteinen bestehen, wird der Monte Disgrazia durch Talk-Olivin-Schiefer und Serpentinite aufgebaut.“ Weiter musste ich im Internet auf hikr.ch lesen: „Als Skitour ist der Monte Disgrazia nicht zu empfehlen. Denn nach dem an sich schon sehr langen Ski-Zustieg über den Monte Sissone an den Fuss des Monte Disgrazia erfolgt ein nochmals langer und anspruchsvoller Fussanstieg über den Nordwestgrat, mit anspruchsvoller Kletterei (mit Skischuhen und Steigeisen) auf den Gipfel. Verständlicherweise erreichen viele Skitourengänger den Hauptgipfel nicht. Reiseempfehlung: Im Sommer, via Refugio Ponti.“

Waren da Weicheier unterwegs oder muss ich mir die Disgrazia wirklich abschminken? Noch mehr Zweifel tauchten auf. Also folgte der Griff zum SAC Führer Graubünden Süd von Vital Eggenberger. „Die grossartige Tour ist nur konditionsstarken und alpinerfahren Skitouristen zu empfehlen...“ Vielleicht doch zu grosse Strapazen?

Wenn da nicht der grosse Strapazi Toni ins Spiel gekommen wäre: „Das Wetter sieht nicht schlecht aus, das sollten wir packen!“, sagte er am Freitagmittag trocken. Gesagt getan! Um 23.30 Uhr holte uns Urs, der dritte Mann im Bunde, in Celerina ab. Und da ist auch schon fast das erste Missgeschick passiert. Als wir am Strassenrand aufs Auto warteten, kam Tonis Kollege Heini mit dem Hund vorbei. Wir plauderten ein wenig, dabei hat das hungrige Tier um ein Haar Tonis Powerwürste aus dem Proviantsack entführt. Um Mitternacht gings vom Parkplatz Orden bei Maloja los. Zum Glück nicht mal eine Viertelstunde Skitragen bis zur Brücke. Dann hinein ins Val Forno im Schein der Stirnlampen mit dem Halbmond als stummen Zeugen, vorbei am Lej Cavloccia. Dank der tragenden Schneedecke kamen wir gut voran und erreichten nach drei Stunden den Gletscher Vadrec del Forno. Wortlos ging es weiter bis zum Wandfuss unter der Torrone Gruppe, dann angeseilt hinauf zum Monte Sissone, 3330 m. Die ersten Sonnenstrahlen vertrieben nach sechstündigem Marsch die nächtliche Müdigkeit ein wenig. Nun war beim Abklettern über den kurzen Sissonegrat auf die Südseite Konzentration gefragt. Die war nicht bei allen drei gleich hoch. So kollerte beim Umrüsten von den Steigeisen auf die Ski plötzlich ein immer schneller werdender Helm über die Firnhänge gegen das Val di Mello hinunter. Wir fuhren schräg hinüber ab zum Bivacco Kima. Dort entrümpelten wir unsere Rucksäcke von unnötigen Ballast. Nun hiess es wieder anfellen und steil gings über den Gletscher hinauf zum Passo Cecilia. In schönster Manier spielten wir Verreckerlis in allen Varianten. Jeder suchte sein eigenes Tempo und die ihm passende Linie. Wobei bei der Linenwahl nicht alle den gleich guten Riecher hatten. Einer versuchte mit einer ihm besonders kühnen Linienwahl gar schnell Höhe zu gewinnen. Doch beim Passieren eines Lawinenkegels stellte er sich bei einer Spitzkehre so dumm an, dass er abrutschte und nochmals auf Feld eins zurückfiel. Der Name des Pechvogels ist vernachlässigbar, hat der arme Kerl doch schon seinen gelben Helm am Sissone weggeschmissen, dass ihm jetzt auch noch die sauteure Sonnenbrille den Bach, sprich Hang runter ging, brachte ihn zu so lautem Fluchen, dass sich die heilige Cecilia auf dem Passo geschämt hätte. Bis zum Skidepot am Westgrat hatte sich sein Gemüt wieder beruhigt. Die wunderschöne Kletterei über den ausgesetzten Firngrat zum Gipfel forderte nochmals einen Effort an Kraft und Konzentration. Um Mitternacht in Maloja gestartet, standen wir ziemlich genau zwölf Stunden später auf dem Monte Disgrazia. Grazie Toni! Grazie Urs! Ach ja, zurück mussten wir natürlich auch wieder. Besonders bei der Abfahrt zum Bivacco Kima, unserem Nachtlager, fühlten sich die Beine ziemlich gummig an. Das spielte keine Rolle mehr, jetzt hiess es Schnee schmelzen um Tee und Suppe zu kochen. Auch wenn es sich im noch tief eingeschneiten Biwak etwas feucht anfühlte, wir kamen uns vor wie in einem Fünf-Sterne Hotel mit Gourmetkoch Toni am Gaskocher. Er zauberte einen Gang nach dem andern auf den Tisch. Und dazu gabs Wurst. Ja, das war eben nicht Hundewurst. So legten wir uns gut genährt schon um halbsieben aufs Ohr. Gestärkt mit Müesli und Nudeln machten wir uns diesmal bei Tageslicht auf den Rückweg. Auch wenn die Sicht unter dem Gipfel des Sissone gleich null war, navigierte uns Toni, ohne sein GPS aus dem Rücksack zu nehmen, millimetergenau auf den Grat zurück. Quasi im Blindflug fuhren wir - soweit sichtbar - den Aufstiegsspuren folgend über den Fornogletscher hinunter, das langgezogene Tal hinaus. Klatschnass vom Regen trafen wir in Maloja ein. Und wieder war es zwölf Uhr, diesmal mittags. Und bevor ich es vergesse: Lieber Urs, danke, dass du mir mit deiner Ersatzsonnenbrille ausgeholfen hast! Etwas habe ich doch vergessen: sie dir zurückzugeben. Disgrazia heisst übrigens auf Deutsch Missgeschick oder Unglück. Jetzt ahne ich langsam, weshalb dieser Berg so heisst. Grazie Monte Disgrazia!