25.05.2014 - Piz Bernina by fair means

Von: Cyrille


Aufsteiger unter Crast' Agüzza

am Bernina-Gipfelgrat

Bernina-Gipfel

am Gipfel

"by fair means"-summiters

Der Autor am Bernina-Gipfel

in den Eingeweiden des Morteratsch-Gletschers

 

Als Strapazi-Neuling wird mir die Ehre zuteil, meine ersten Erfahrungen mit den Strapazis darnieder zu schreiben. Ich muss allerdings vorweg nehmen, dass die Piz Bernina Tour, worüber ich berichten möchte, nicht mein erster Berührungspunkt mit dieser etwas anderen Gruppe ist. Ein gutes halbes Jahr zuvor wurde ich auf die Strapazis aufmerksam, als ich gerade im Begriff war, den Piz Bernina an einem Tag per MTB zu umrunden. Etwa auf halber Strecke kam mir ein einsamer Biker entgegen. Es war Raphi Bauer, der genau das gleiche im Sinn hatte – bloss in entgegengesetzter Richtung. Der gemeinsame Hang zu etwas verrückteren und strapaziöseren Unterfangungen war sogleich offen gelegt, worauf er die Gelegenheit ergriff, mir ein Strapazis-Visitenkärtchen zu überreichen, ehe wir unsere Reise fortsetzten.

 

Schön also, dass ich sowohl meine Erst-Umrundung wie auch meine Erst-Besteigung mit den Strapazis in Verbindung bringen darf.

 

Wenn ich jemandem Empfehlungen geben möchte, welche Faktoren zu Strapazen beitragen können, dann gewiss am Beispiel dieser Tour:

 

1. Vorbelastung

 

Man unterziehe sich am Vortag einer ziemlich starken Vorbelastung in Form einer Radtour Julier – Albula, welche man wenn möglich erst gegen 19 Uhr beendet.

 

2. Spontanität

 

Man reagiere anschliessend auf die Aufforderung der Kollegin, sich der Tour anzuschliessen, welche in knapp 7 Stunden – also um halb 3 in der Früh starten sollte.

 

3. Neuland betreten

 

Man setze sich als Strapazis-Neuling mit der Materie, welche im Zusammenhang mit „by fair means“-Abenteuern *1)  steht, zum ersten Mal überhaupt auseinander:

-        Skier am Rad befestigen oder am Rucksack? Falls am Rad, wie?

-        Skischuhe zum Radfahren im Rucksack oder an den Füssen? Falls im Rucksack, wie finde ich Platz für den Rest der Ausrüstung?

-        Wie fixiert man eine Stirnlampe am Velohelm ohne dass sie ständig verrutscht?

 

4. Wenig Erholung

 

Man vernachlässige ob der fortgeschrittenen Zeit eine vernünftige und ausreichende Ernährung und sehe zu, wie einem trotz quälender Müdigkeit wertvolle Stunden Schlaf wegen aufkommenden Zweifels entgehen. Ob ich den Wecker wohl hören werde? Überschätze ich mich da nicht etwas? Werde ich das überhaupt schaffen? Muss die ganze Gruppe auf halber Strecke wegen eines einzelnen umkehren?

....

 

Eine wolkenlose Nacht verspricht einen prächtiger Tag. Die erste Etappe mit dem Bike bis zur Gletscherzunge verläuft im gemütlichen Tempo. Als austrainierter Radfahrer bereitet mir dieser Abschnitt keine Mühe. Dann folgt der Wechsel auf die Skier, wo ich gleich merke, dass meine Zweifel durchaus ihre Berechtigung hatten... Solange es flach ist, beschwichtige ich mich selbst und denke, dass ich den Nachhauseweg ab hier noch selber finden würde. Dann wird’s steiler und der Schnee ist pickelhart. Gegen Müdigkeit, Energielöcher und um den Anschluss kämpfend, suche ich mir eine neue Motivationsstrategie und rede mir zu, dass ich kein grosser Bremsklotz sein kann, solange mich Toni sein Seil tragen lässt... Während andere die malerische Morgendämmerung begeistert fotografisch festhalten, ist mir eher nach Nahrungsaufnahme. Meine Kamera bleibt bis zum Gipfel unberührt.

 

Auf den Blog-Eintrag von Alain Hauser vom 20.03.2014 Bezug nehmend, in welchem er Toni’s erste zaghaften Schritte in Richtung Demokratie beschreibt, treten beim Einstieg in den letzten Steilhang zum Spallagrat hoch weitere demokratische Züge zum Vorschein, als er uns fragt, ob wir die Skier hochtragen wollten oder lieber ein Skidepot erstellen möchten. Irgendwie froh, meine Skier deponieren zu können, schliesse ich mich der Mehrheit an. Es sollte sich als Fehlentscheid entpuppen, da ausgerechnet dieser Hang ein ausgesprochen schöner und der einzige Pulverhang überhaupt gewesen wäre, was uns die ersten entgegenkommenden Bernina-Bezwinger mit ihren eleganten Schwüngen genüsslich vorführen. Dieses Beispiel zeigt, dass demokratische Strukturen nicht immer greifen, wenn es um richtige Entscheidungen geht...

 

Der Gipfel auf 4049m.ü.M. ist dann Freude und Erleichterung pur. Der weite Blick vom Dach Graubündens aus entschädigt für alle Strapazen, und der Umstand den Gipfel mit einer 100%-iger Ökobilanz erklungen zu haben, gibt der Unterfangung eine ganz spezielle Note. (Mal abgesehen vom CO2-Ausstoss, welche die Produktion von Bike und Bergausrüstung mit sich bringt...)

 

 

 

*1) An dieser Stelle sei dem bergunkundigen Leser noch der Begriff „by fair means“ erklärt: Es geht darum, den Berg ohne künstliche Hilfsmittel zu bezwingen. Strapazis legt diesen Begriff so aus, dass auch Zufahrtswege unter diese Kategorie fallen, weshalb wir also die erste Etappe von zu hause bis zur Gletscherzunge des Morteratschgletschers mit dem Bike zurückgelegt haben. Dies mag auf den ersten Blick als Hirngespinst erscheinen, sollte sich aber spätestens auf der langen Strecke aus dem Morteratschtal raus als überaus schlaue Alternative erweisen, wenn man genüsslich an allen Berggängern vorbei rollen kann. Schliesslich wurde ja das Rad erfunden.