26.06.2015 - Huantsan, 6395 m - dem Inferno entronnen

Von: Toni


Nevado Huantsan vom Nevado Ishinca

wilder Nevado Kayesh vom Highcamp

Nevado Huantsan mit Umkehrpunkt am Nordwestgrat

Albin am Umkehrpunkt

nächtliche Abseilaktion am Huantsan NW-Grat

Gratverlauf oberhalb Umkehrpunkt

Toni im Moraine Camp nach Huantsan Abenteuer

Nach den bisherigen Erfolgen in der Cordillera Blanca in Peru wollen wir uns quasi zum Dessert noch etwas Besonderes gönnen: Eine Bergbesteigung mit tiefgehendem Erinnerungspotenzial zugleich auch ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Der hohe Huantsan scheint uns da gerade richtig. Dass bisher weniger als ein Dutzend Besteigungen bis zum Gipfel gelangten, beweist seine abweisenden Qualitäten. Ein gewisser Lionel Terray war für die Erstbesteigung zuständig, derselbe Lionel Terray, der auch als Erster auf dem Fitz Roy in Patagonia stand.

Dass so eine Besteigung nur mit üblen Schindereien unter prallvollen, schweren Rucksäcken einhergehen kann, dämpft meine anfängliche Begeisterung für das Projekt in keiner Weise. Ein Missverständnis lässt uns die Lasten schon früher als geplant selber tragen. Unter schweren Rucksäcken ächzend erreichen wir bei starkem Gegenwind die giftgrüne Laguna Shallap, auf 4300 m. Der Weiterweg hinauf zum Moraine Camp muss hier erst noch gefunden werden. Durch hohes, teilweise undurchdringliches Gestrüpp, kämpfe ich mich wegsuchend die steile Moränenflanke hoch. Darüber finde ich eine Pferdeweide mit unzähligen Tierpfaden. Natürlich verfehle ich den Richtigen und finde mich suchend irgendwo in den steilen  Felsfluchten wieder. Etwas weiter unten entdecke ich dann eine Passage mit wenig ausgeprägten Wegspuren durch die abschüssigen Felsflanken. Ich folge dem Pfad bis ich mir sicher bin, den  richtigen Weg gefunden zu haben. Dann deponiere ich das mitgebrachte Klettermaterial und steige, unzählige Steinmänner bauend, zu unserem Zeltlager am Ufer der Lagune ab.

Der nächste Tag erwartet uns mit einem Carry der üblen Sorte. Das Moraine Camp auf 4750 m liegt in einer mit Grasbüscheln durchsetzten, steinigen Öde. Immerhin hat es fliessend Wasser, das jeweils nachts auf den Felsen gefriert. Ausruhen von den Mühen des Aufstiegs ist leider noch nicht angesagt, denn ich darf noch das deponierte Klettermaterial vom Vortag  raufholen. Rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit bin ich aber wieder zurück im Camp.

Dort wirbelt der starke Wind immer wieder Sand und Staub an der nahen Moränenflanke auf und verteilt diesen über unser Lager. Eine sandige Patina legt sich in der Folge über uns.

Bei Hellwerden brechen wir zur Gletschertour ins Highcamp auf. Wir können so vom hart gefrorenen Schnee des Morgens profitieren. Der Gletscher zeigt sich hier wild zerklüftet, ein Chaos aus Spalten und dünnen Schneebrücken, eingefasst von einer felsigen, senkrechten Felswand. Dort krachen denn auch immer wieder Eisstücke und Felsbrocken runter, welche durch die wärmende Morgensonne ausgelöst werden. Immer darauf bedacht, der Felswand nicht zu nahe zu kommen, finde ich zwischen den ärgsten Spalten und der drohenden Wand eine gangbare Passage. Auf 5500 m stellen wir unsere Zelte auf, ein sicherer Platz für unser Highcamp, am Fusse des Huantsan Nordwest-Grates. Ein schöner Ort, wie gemacht zum Träumen und an der richtigen Taktik für die Gipfelbesteigung zu feilen: Expeditionsstil oder Alpinstil? Mit oder ohne Biwak? Auf jeden Fall müssen wir früh dran sein, die Sonnen-einstrahlung könnte den Schnee gefährlich werden lassen.

Die Szenerie ist höchst beeindruckend. Die Eispilze und Schneewächten an „unserem“ Grat zeigen sich respekteinflössend und atemberaubend. Über diesen Grat wollen wir also rauf, über diesen steilen und zerbrechlichen Irrsinn der Natur? Einige Fotos an den Wänden der Unterkunft in Huaraz sind bezeichnet mit „Andes Madness“. Es ist hier einfach so. Mir schwant schlimmes, denn ich habe da so meine Erfahrungen. Die liegen zwar schon 33 Jahre zurück. Aber die Erinnerungen an die Besteigung solcher Grate sind plötzlich wieder da. Die Wühlerei im beinahe senkrechten Pulverschnee, die haarigen Absicherungen. Diese Berge haben sich nicht wirklich verändert.

Der Sonnenuntergang bietet Spektakel vom Feinsten. Immer wieder wird die Kamera gezückt, als feurig rote Wolken den faszinierenden Nevado Kayesh einhüllen.

Bereits um Mitternacht beginnen wir mit der Kocherei. Eine Stunde später sind wir bereit für den langen Tag, Jeannettes Geburtstag wohlgemerkt! Albin steigt vor und setzt am Bergschrund eine erste Eisschraube. Eine kurze Stufe, bringt uns über den senkrechten Eiswulst, damit ist die erste heikle Stelle schon erledigt. Der Firnschnee darüber ist zwar immer noch steil, doch mit den beiden Eisgeräten, die sich zuverlässig in die Unterlage verbeissen, fühlen wir uns dennoch wohl. Die Frontzacken der Steigeisen geben uns beruhigenden Halt für die Füsse und mit den sperrigen Firnankern kann ich jeweils gute Zwischensicherungen anbringen. Also alles im grünen Bereich, wirklich?

Die Zweierseilschaft mit Albin und Jeannette klettert voraus. Unsere Dreierseilschaft, mit Ursina und Stephan, ist da nicht so schnell unterwegs. Doch der Abstand verringert sich zunehmend, als es die ersten Eispilze zu überqueren gilt. Statt über die Pilze traversiert Albin in der steilen Flanke unter diesen hindurch. Das finde ich nicht so toll, denn da könnte auch mal was runterstürzen. Da hängen doch Tonnen von Schnee über uns, wenn das nur gut geht! Hinter dem grossen Eispilz probiert er auf den Grat hinaufzuklettern. Als er aber mit einem Fuss in die dunkle Leere der andern Gratseite tritt, gibt es für ihn ein Aha-Erlebnis der üblen Sorte. Das ist selbst für ihn zu viel, er kehrt um. Inzwischen habe ich zu Jeannette am Sicherungsstand aufgeschlossen. Ich setze neben ihr einen Firnanker und probiere schon vor dem überhängenden Eispilz auf den Grat zu gelangen. Im rund 70° steilem Firnschnee erreiche ich die messerscharfe Gratschneide. Der kalte Wind aus der Eiswand faucht mir ins Gesicht. Wow, wie ausgesetzt! Der Abgrund ist zwar nicht sichtbar, aber mit dem fauchenden Wind und dem Wissen darum, ist er trotzdem da. Im Dunkeln hat man einfach mehr Angst, als bei Tag, das ist eben so.

Auf diesem Grat ist kein Platz zum Stehen. So trage ich rund einen Meter Schnee vom Grat ab, um eine Plattform für meine steigeisenbewehrten Schuhe zu schaffen. Muss dann aber feststellen, dass die Gratschneide nach meiner Wühlerei erst rund 25 cm breit ist. Ich beginne zu rechnen, das macht dort wo ich stehe, gerade mal eine Gratbreite von gut 40 cm. Da werde ich schlagartig vorsichtiger, denn die schattige Südseite besteht ja aus bodenlosem Pulverschnee! Der Lichtkegel meiner Stirnlampe huscht in die Leere auf der andern Gratseite und wird dort vom tiefen Schwarz des Abgrundes vollständig aufgefressen.

Wie sollen wir uns hier für den Weiteraufstieg sichern? Unsere Firnanker können uns da  nicht weiterhelfen. Der weitere Aufstieg wäre eine bodenlose Wühlerei am Grat bei nervenaufreibender Absicherung. Ist es das, was wir hier suchen? Die ultimative Kombination von „Andes Madness“ mit zweifelhaften Sicherungsmöglichkeiten? Nein, mir ist das zu riskant. Ich habe keine Lust da runterzufliegen. Da möchte ich dann doch lieber meinen Enkelkindern wilde Geschichten erzählen und im Sumitomo-Zelt in der Natur draussen nächtigen statt als Gletscherleiche am Wandfuss der eisigen Huantsan Südwand zu enden.

Ich klettere zurück und bitte Albin, sich die Sache anzuschauen. Doch auch er entscheidet sich für den Rückzug. Zu lose der Schnee, zu steil die Wand, einfach zu riskant, um da weiterzusteigen. Also Abseilen über den Grat! Das wird nicht einfach. Wir haben  Firnanker und Holzscheite zum Vergraben und 2x 50m Seil, das sollte reichen.

Albin baut als Abseil-Erster die Verankerungen. Diese werden verstärkt mit Eispickeln oder zusätzlichen Firnankern. Die Letzte beim Abseilen ist jeweils Jeannette, unser Leichtgewicht. Sie nimmt all die Zusatzsicherungen wieder mit, da die jeweilige Verankerung unsere Gewichte bereits gehalten hat. Die Holzscheite sind Albins Wunderwaffe: Ökologisch sauber und zu 100% wieder biologisch abbaubar. Sie werden in einem T-Schlitz quer zum Hang tief im Firnschnee vergraben und daran eine Reepschnur als Abseilschlinge befestigt. Die Spannung beim Abseilen ist enorm, es darf hier einfach keinen Fehler geben. Selbst der lässige „quattro por quattro – Smile“ von Stephan geht da unter. Nach viermaligem Abseilen erreichen wir unter dem überhängenden Bergschrund den Wandfuss. Wieder zurück bei den Zelten, kriechen wir erst mal in die Schlafsäcke rein, denn es ist immer noch dunkel. Es braucht aber lange bis wir darin wieder warm bekommen.

Am Morgen hängt eine Wolkenfahne am Grat und verwehrt uns die wärmenden Sonnenstrahlen. Der Wind wird intensiver und erinnert uns daran, dass wir uns immer noch in grosser Höhe befinden. Es braucht Überwindung, aufzubrechen, um ins Moraine Camp abzusteigen. Der Berg zeigt uns jetzt sein anderes, sein eiskaltes, forderndes Gesicht. Mit Wind und Graupelschnee vertreibt er uns aus dem Highcamp. Wir haben so viel Energie und Arbeit investiert, ohne den Gipfel zu erreichen, könnten also enttäuscht sein. Trotzdem bin ich froh und zufrieden, dass wir rechtzeitig umgedreht sind, denn oben am Gipfel ist jetzt die Hölle los. Der eingetretene Wetterumsturz wäre wohl in Gipfelnähe zu einem üblen Inferno ausgeartet, zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang!