18.06.2015 - Quitaraju, 6032 m - Strapazis in der Nordwand

Von: Toni


Stephan geblitzt über Bergschrund

Die Quitaraju Nordwand mit Anrisskanten von Schneebrettern

am Standplatz im unteren Wandteil

Stephan im unteren Teil der Nordwand

Ursina im unteren Teil der Quitaraju Nordwand

Ursina am Gipfel: Freude pur

Strapazi auf Gipfeleispilz: Öppis bessers gits nid!

Ursina und Stephan im Abstieg vom Gipfel

Abseilen durch die Quitaraju Nordwand

Die Berge der Cordillera Blanca in Peru liegen etwas südlich vom Äquator. Das bedeutet, dass die Nordwände sonnenbeschienen und die Südwände schattig sind. Auch die Quitaraju-Nordwand bekommt ihre Sonneneinstrahlung. Das führt dazu, dass die steilen Schneeflanken jeweils nach der Regenzeit wieder verfirnen.

Vom Alpamayo Highcamp können wir die Wand gut beobachten. Wir sehen so auch die Abrisskanten der abgerutschten Schneebretter. Unter dem Gipfelgrat könnte sich sogar gefährlicher Triebschnee abgelagert haben. Das wäre dann gefährlich und könnte uns sogar den Gipfelerfolg vereiteln.

 

Nach einem „Fast-Ruhetag“, den wir zur Besteigung des Eispilz-verseuchten, 5600 m hohen

Nevado Lovajirca genutzt haben, fühlen wir uns wieder fit für neue Abenteuer.

 

Um 3.30 Uhr marschieren wir los. Im Schein unserer Stirnlampen folgen wir der Spur über den flachen Gletscher. Am Wandfuss geht der Schnee in kompakten Firn über, also ideale Verhältnisse für unser Vorhaben. Die eigentliche Wand beginnt über dem halbmondförmigen Bergschrund. Diesen zu überqueren ist nicht einfach, denn eine überhängende Eisstufe muss dazu überwunden werden. Zum Glück hat Stephan gestern noch die Wand fotografiert. Auf seinem Kamera-Display ortet er die günstigste Stelle zur Überkletterung ganz links. Und wirklich, über eine Schneebrücke gelingt mir dort eine relativ einfache Überquerung der Randspalte.

Jetzt haben wir freie Bahn auf die Quitaraju-Nordwand. Die Steigeisen und Pickel beissen sich vertrauenserweckend in den eisigen Untergrund. So können wir wieder parallel klettern, so wie vorgestern am Alpamayo, indem wir jeweils zwei Firnanker als Zwischensicherungen zwischen uns einschlagen. Sobald dem Vorsteiger das Sicherungsmaterial ausgeht, wird an beiden Pickeln Stand gemacht. Führungswechsel. Die untersten Seillängen klettern wir im Dunkel der Nacht, unter einem eindrücklichen Sternenhimmel. Dann beginnt die Morgendämmerung mit einem unglaublichen Farbspektakel. Das begeistert. Wir sind mittendrin, haben Sicht auf die ständig ändernden Magenta Farbtöne am Nevado Santa Cruz und die Gelbtöne hinter den Eispilzen der Nevados Pucajirca. Wir staunen nur so über dieses gewaltige Spektakel.

Oberhalb der Felsen des schwach ausgeprägten Grates wechseln wir auf die östliche Wandseite. Hier ist es etwas weniger steil und Sonnenstrahlen streifen über die Steilflanke. Doch die Schneeverhältnisse sind nicht mehr über alle Zweifel erhaben. Zwischen harten, krustigen Schichten treffen wir weiche Zwischenschichten an. Darum sind wohl in der Wand unter uns die riesigen Schneebrett-Lawinen abgegangen. Und trotzdem habe ich ein gutes Gefühl bei der Sache, denn der Schnee wird nach oben hin wieder steiler und kompakter. Unsere Tritte sind zwischendurch auch mal schuhtief. Das freut die Zehen, denn das ständige Frontzacken einschlagen im unteren Wandteil hat diese arg strapaziert und eisig kalt werden lassen. Die Sonne beginnt der Wand einzuheizen, aber der kalte Wind weiter oben sorgt zugleich wieder für genügend Abkühlung.

Hier finde ich auch die Aufstiegsspur von Octavio dem peruanischen Bergführer und seinen beiden italienischen Gästen wieder. Sie sind auch für diesen Berg wieder um Stunden früher gestartet und haben inzwischen den Gipfel erreicht. Eine Seillänge unter dem Gipfelgrat kommen sie uns abseilend entgegen. Sie versprühen Freude und Erleichterung am Stand, etwas Italianita, in den peruanischen Anden, auf rund 6000 m. Wir gratulieren uns gegenseitig. Doch für uns ist noch die letzte Seillänge zu klettern, bespickt mit einem steilen Aufschwung. Auf dem Weg zum Grat gehen mir als Vorsteiger dann auch noch die Firnanker aus. Der Firnschnee ist aber inzwischen wieder kompakter und so klettere ich einfach weiter zum Abseilstand am zurückgelassenen Firnanker von Octavio. Hier installiere ich mich dann wieder lehrbuchmässig und sichere meinen Seilgefährten nach. Die Nerven beruhigen sich schnell wieder. Jetzt kommt nur noch der schöne Gipfelgrat zum höchsten Punkt auf einem teilweise überhängenden Eispilz. Ein Genuss für jeden Bergsteiger. Der Wind am Gipfelgrat ist stark und böig und zwingt uns zu vorsichtigen Schritten. Da vom Grat runterzufliegen hat hier niemand Lust.

Immer wieder halten wir an, um den ausgesetzten Gipfelgang auch fotografisch festzuhalten. Unsere Gefühle sind da eindeutig im positiven Bereich der Emotionsskala.

Ganz oben auf dem Gipfeleispilz bin ich mir sicher: „Öpis bessers gits eifach nid“!

Am Gipfel des Quitaraju hat selbst unsere Cyber-Lady keinen Empfang. So bleibt das World Wide Web und damit die Welt da draussen ohne unsere Erfolgsmeldung. Das ist ja schon fast wie früher, mich beunruhigt sowas überhaupt nicht.

Wieder zurück am obersten Stand beginnen wir mit der Abseilerei. Octavio hat da gute Arbeit geleistet. Jeweils nach 60 m finde ich als Erster abseilend den nächsten Firnanker oder auch bloss eine Seilschlinge um einen Felsblock. Unsere Seile sind jeweils sehr knapp und müssen, da ungleich lang, sauber nachgerichtet werden. Im Abseilen sind wir ein eingespieltes Team. So geht es flott die Wand runter. Nach 6 x 60 m ist aber Schluss. Octavio ist da wohl das Material ausgegangen. Wir haben noch genügend Firnanker und opfern zwei weitere Firnanker, um gänzlich über den Bergschrund hinab zu kommen.

So gelangen wir heil zum Wandfuss hinunter. Dort aber brennt die Sonne schon fast unerträglich. Da hilft nur noch eines: Komplettes Verhüllen aller Hautteile. Während der Gletscherwanderung zurück ins Highcamp ähneln wir darum eher irgendwelchen verhüllten Gotteskriegern als Bergsteigern aus der heilen Schweiz. Der passende Name für uns ist dann auch schnell gefunden: Quitaraju-Gang.

Im Highcamp wird erst mal ausgiebig getrunken und gefuttert. Wir feiern unseren Erfolg mit währschafter Noodle-Soup und leckerem Stocki mit Ei, für Strapazis im Highcamp ist sowas natürlich in Ordnung. Für viele wäre das schon eher ein „No Go“.

Während der Nacht haben sich die Sturmböen verstärkt und feine Schneegraupel fliegen durch die Luft. Am Morgen ist es nicht besser. Ausserhalb vom Zelt ist es verdammt ungemütlich. Der Gang zur Toilette wird möglichst lange hinausgezögert. Mit dem Befüllen der Piss-Bottle lässt sich sogar auch das noch vermeiden. Es ist ungemütlich hier oben, darum nichts wie weg! Der Sturm hindert uns zwar noch am zusammen räumen, aber dann sind wir unterwegs. Die Sicht ist mies, „Whiteout“ nennen wir das, so wie die Amis.

Stephan sucht die Spur zum Passübergang und findet dort die Abseilverankerung. Bis sich da aber alle abgeseilt haben, bin ich als Seilletzter völlig unterkühlt. Es gibt wahrlich Schöneres als bei Sturm, mit kalten Fingern und schweren Rucksäcken ins Unsichtbare abzuseilen. Da kommt mir der Uraltsong von den „Doors“ in den Sinn: „Riders on the Storm“

So alt und doch so gut. Unter dem eisverkrusteten Bart huscht mir ein flüchtiges Lächeln über das Gesicht.

Es gibt eben auch dieses, das andere Gesicht der Berge: Bedrohlich, wild, gefährlich und fordernd. Doch wir sind bereit, auch diese Aufgabe anzunehmen. Der Abstieg führt uns sicher hinab ins Alpamayo Basecamp. Hier fällt mir der Duft von feuchtem Gras auf, einen Geruch, den wir die letzten Tage nicht mehr in der Nase hatten.

Aquiles, unser Arriero, kommt rechtzeitig mit seinen Burros. Auch er ist zufrieden mit unseren Gipfelerfolgen und lädt uns zu sich nach Hause in Cashapampa ein, zu kulinarischen Genüssen mit Harfenklängen und Gesang. – So einfach geht das!