02.03.2019 - Piz Plattas: hic sunt dracones

Von: Alain Hauser


wühlen, fast wie im Himalaya

auf Drachensuche eingestellt

Steil isch geil, aber nur mit Seil

Steigeisen kratzen an der Gipfelwand

Glykogenspeicher füllen

summiters mit Kamera am Anschlag

Autor im Abstieg am Gipfelgrat

zurück beim Skidepot

Piz Plattas. Ein Berg, den mittelalterliche Karten wohl mit "hic sunt dracones" verzeichnet hätten. Google hält den Berg schlichtweg für einen Tippfehler. Dass über seinen Namensvetter im Surses mehr berichtet wird, war anzunehmen. Aber gleich in dem Masse? Auch spricht Toni in der Ausschreibung von einer "längeren Skitour für Strapazis mit Pioniergeist"; meine Wenigkeit, nach einigen Jahren (amerikanischer) Industrieerfahrung gegen die übelsten Auswüchse von euphemistischem "corporate speech" abgebrüht, versteht sofort: es handelt sich um eine Schinderei für Spinner mit masochistischem Einschlag.

Ich schenke der Ausschreibung daher die Beachtung, die sie verdient: keine. Bis zum verhängnisvollen Moment, an dem mich meine Angebetete kurz und knapp auffordert, den Samstag doch bitte mit Toni zu verbringen, damit sie ihre wohlverdiente Ruhe habe. Selbstverständlich wiegle ich zuerst ab, doch "wenn dir wüsst was Froueblicke mängisch chöi, dass' eim heiss im Chopf wird, und zittrig i de Chnöi" (um es mit den wie immer treffenden Worten eines berühmten Berners zu sagen), scheint es mir nach einigem Nachdenken ratsamer, Tonis Projekt doch einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Die Skitourenkarte verzeichnet keine Route auf den Berg: keine gepunktete, keine gestrichelte, und erst recht keine durchgezogene. Immerhin fehlt der Hinweis "hic sunt dracones"; ein Versehen? Das in der Ausschreibung beschriebene Couloir sieht auf der Karte hübsch aus, die felsigen Strukturen oberhalb sind dort nicht einzuschätzen, da die Gravuren von SwissTopo bisher noch nicht nach Strapazen abstufen. Nun – warum nicht, für einmal, dem nüchtern-besonnen Verstand entsagen und stattdessen dem Abenteuergeist frönen?

Der in der Regel nicht zu Unrecht zweifelnde Verstand, der sich schon bei anderer Gelegenheit als hilfreiche Orientierungshilfe bewährt hat, meldet sich bereits auf der Autofahrt nach Tarasp Fontana zurück. Zwischen tiefgründigen Gesprächen über Weltpolitik, Gerechtigkeitssinn, und das dem homo sapiens eigene, niedere Gefühl der Zufriedenheit, das sich eher am Mehr gegenüber seinem Nachbarn als an seinem eigenen Haben orientiert, wird beiläufig erwähnt, was für ein durchtrainierter, schneller Typ dieser Mario sei, von dem Toni den Tipp für diese Tour erhalten hat. Umso suspekter scheint mir die einhellige Bewunderung, weil mir die anderen Fahrgäste der frühmorgendlichen Fahrt bei früheren Touren auch nicht unbedingt durch einen Mangel an Fitness aufgefallen waren. Toni beruhigt und meint, er habe Mario empfohlen, ein bisschen später zu starten, um gleichzeitig dessen Langeweile und unserem Stress entgegenzuwirken.

So starten wir also bei akzeptablem Tempo unseren morgendlichen Trott in die lange Val Plavna, im Schein der funktionierenden und im Dunkel der nicht funktionierenden Stirnlampen. Ein knappe Stunde später schliesst besagter Mario bereits auf – er scheint sich nur halbherzig an Tonis Aufforderung gehalten zu haben, uns Vorsprung zu gewähren; so wechseln wir in vorläufig nur unwesentlich schnelleren Trott und erreichen nach insgesamt etwa 2 Stunden Aufstieg die Abzweigung zur Pischa Dadora.

Die kurze Pause nutzen alle, um irgendwelchen Ballast umzuladen: aus dem Picknicksack in den Magen, aus der Blase in den Schnee, aus dem Rucksack an den Hals. Für letzteres entscheidet sich Hans, der eine Kamera mit riesigem Objektiv in Anschlag bringt, in der Hoffnung auf die Sichtung von Gämsen oder, mit etwas Glück, gar eines Bartgeiers. Toni, hilfsbereit und mitdenkend wie immer, weist darauf hin, dass Aas die Wahrscheinlichkeit für die Sichtung eines Bartgeiers massgeblich erhöhen könnte. Ein mulmiges Gefühl macht sich breit, fragt sich doch plötzlich jeder, wer denn diesem Zustand wohl schon am nächsten sei.

Der Grübelei wird durch den Aufbruch in Richtung Piz Plattas ein Ende gesetzt. Und als Mario sich, nach beherzten Versuchen, die Geduld nicht zu verlieren, doch an die Spitze setzt und eine gleichmässige Spur durch die unberührten Hänge setzt, wird es um den Verfasser dieser Zeilen herum immer einsamer. Der Abstand zur Gruppe der Spurer wird immer grösser. Einmal immerhin machen sie Pause, die dummerweise genau mit dem Eintreffen des Nachzüglers zu Ende ist. (Der Ehrlichkeit halber, und um mich von Vorwürfen übler Nachrede freizuwaschen, sei hier zugegeben: das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Die Pause war schon kurz vor Eintreffen des Nachzüglers zu Ende.)

Bald schon erreichen wir (oder zumindest einige von uns) den Einstieg zum steilen Südcouloir des Piz Plattas. Gelände, im welchem Hans genauso zu Hause ist wie die von seinem Teleobjektiv gesichteten Gämsen. Er übernimmt das Spuren und findet reichlich Gelegenheit, luftige Wendepunkte für Spitzkehren auf ausgesetzte Vorsprünge zu setzen. Mit zunehmender Höhe kratzen die Harscheisen immer knapper am steilen Hang; dafür kratzt dieser langsam an den nicht übermässigen stabilen Nerven des Schreibenden. Dieser beschliesst irgendwann, seine Ski auf halber Höhe einzustecken, und den Weg auf Steigeisen fortzusetzen.

In der Scharte zwischen den beiden Gipfeln des Piz Plattas angekommen, wartet eine freudige Überraschung. Während sich die Mehrheit der harten Jungs bereits den Gipfelgrat hochwühlt, um Drachen zu suchen und zu bändigen, hat sich Expeditionsarzt Paolo offenbar an seinen hippokratischen Eid erinnert und wartet in bester humanitärer Tradition auf den Nachzügler, der sich bloss mit einem gequälten Lächeln statt mit Tarmed-Taxpunkten erkenntlich zu zeigen vermag.

Der Gipfelgrat sieht erst einmal nett aus, auf den ersten Blick massvoll wild. Bereits der zweite Blick lässt einen die Einschätzung des Massvollen überdenken. Hinter der ersten Felskante ist das Bild geprägt von einer abdrängend steilen Schneeflanke und einem strahlenden Toni mit Kamera im Anschlag, der freudig meint, hier sähe es ja aus wie im Himalaya. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu befürchten, dass er Recht hat. Immerhin eines muss man dem ganzen Berg, und dem Gipfelgrat im Besonderen, lassen: er ist pädagogisch geschickt aufgebaut. Ständig hat man den Eindruck, das Anspruchsvollste sei bald überwunden. Doch kaum hat man sich an das Grauen gewöhnt, nimmt es gleich um die nächste Ecke eine grössere Dimension an. Virtuos kombiniert der Berg wenige Grundmotive – Steilheit, Ausgesetztheit, Brüchigkeit – in immer neuen Kombinationen zu einem fulminanten Crescendo, das in einen Paukenschlag in Form eines kleinen Kamins mit anschliessendem Felsaufschwung mündet.

Selbstverständlich hat der Berg kein Gipfelkreuz; wer sollte auch so was dort hochtragen? Immerhin bietet der Gipfel genug Platz, ein wenig auszuspannen, die gähnende Tiefe auszublenden, die Fernsicht über die verschneiten Unterengadiner Dolomiten zu geniessen, über das Alter des Geburtstagskindes auf dem Gipfel zu rätseln, und – last but not least – die leeren Glykogenspeicher mit Hilfe einer Tube Kondensmilch wieder aufzufüllen.

Der Abstieg in den Sattel ist, dem oben erwähnten pädagogischen Aufbau des Berges sei Dank, weniger nervenaufreibend als der Aufstieg. Erstens hat man sich an die Gräuel bereits gewöhnt, zweitens sind die schlimmsten davon in Abstiegsrichtung als erstes überwunden. Die feine Schicht Schlagsahne, die sich letzte Nacht über die angenehm geneigten Hänge der Pischa Dadora gelegt hat, machen die Abfahrt bis in die Val Plavna definitiv zum Dessert. Die lange und meist flache Strecke zurück nach Tarasp Fontana ist zwar kein besonderer Genuss mehr, aber bietet immerhin den anwesenden Aspiranten für den eine Woche später stattfindenden Engadiner Skimarathon eine willkommene Trainingseinheit.

Was bleibt von der Tour? Die Einsicht, dass auch die Flecken, die sich ganz am Rande von Googles Suchindex befinden, ganz interessant sein können. Und die Eingebung für ein neues Motto einer "Love Life"-Kampagne: "Steil isch geil – aber nur mit Seil!" In gewissen Situationen ist, wer das Leben liebt und trotzdem das Abenteuer nicht missen mag, mit Nylon ganz einfach besser bedient als mit Latex.